„Du bist ein Gott, der sich zeigt“ oder „Du bist ein Gott, der mich sieht“?

Zur Übersetzung der Jahreslosung 2023 in 1. Mose 16,13

Detlef Dieckmann „Du bist ein Gott, der mich sieht“, wird 2023 als Jahreslosung auf Plakaten und Gemeindebriefen stehen. Manche Gemeinden machen dieses Wort der geflüchteten Hagar in der Wüste zum Jahresthema. Zitiert wird dieses Wort in der Regel aus der Luther-Bibel, auch in anderen Bibelübersetzungen liest sich dieser Satz aus 1. Mose 16,13a ähnlich (z.B. in der BasisBibel, der Neuen Genfer Übersetzung, der Einheitsübersetzung oder der Elberfelder Bibel). Wer dem hebräischen Text folgt, der Grundlage protestantischer Bibelübersetzungen seit Martin Luther, muss anders übersetzen: „Du bist ein Gott des Gesehenwerdens“ steht da, wenn man jeden Punkt und Strich der Masoreten ernst nimmt, also derjenigen, die um das Jahr 1000 den hebräischen Text sorgfältig mit Vokalen versehen haben. Das hebräische Wort roʾi, das hier mit „Gesehenwerden“ wiedergegeben wird, steht in der hebräischen Bibel an nur drei weiteren Stellen – und jedes Mal geht es um das, was zu sehen ist, das Gesehenwerden oder Sich-Sehenlassen (vgl. 1 Sam 16,12; Hiob 33,21; Nah 3,6) und nicht um den Vorgang des Sehens. „Du bist ein sichtbarer Gott“, übersetzte entsprechend Moses Mendelssohn 1783. Nach dem hebräischen Text bekennt also die ägyptische Sklavin Hagar, die in dieser ‚umgekehrten Exodusgeschichte‘ auf der Flucht vor ihrer harten Herrin Sarai ist, dass Gott sich ihr gezeigt hat. Dieses Bekenntnis ist im Erzählkontext auch deswegen erstaunlich, weil Hagar zuvor nicht von Gott selbst, sondern von seinem Boten aufgesucht wird. Gleichwohlwird Hagar im hebräischen Text so dargestellt, dass sie die Begegnung mit dem Boten als Gottesbegegnung gedeutet hat. Auch die Septuaginta, die antike griechische Übersetzung des Alten Testaments, legt Hagar das Bekenntnis in den Mund, sie habe Gott gesehen, hier sogar: ins Angesicht – allerdings nicht im ersten, sondern im zweiten Teil des Verses, in 1. Mose 16,13b: „Sie sagte nämlich: Ins Angesicht habe ich ihm gesehen, als er sich mir zeigte. Deswegen nannte sie den Brunnen: Brunnen, wo ich ins Angesicht sah.“ Die Luther-Übersetzung folgt im zweiten Teil aber nicht diesem griechischen, sondern dem hebräischen Text und übersetzt: „Denn sie [Hagar] sprach: Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ Vor Augen haben wir in der Luther-Übersetzung also eine Hagar, die Gott in der Weise vorsichtig hinterhergesehen hat wie Gott es später Mose erlauben würde (2. Mose 33,23). Kurz gesagt: Sowohl der hebräische masoretische als auch der griechische Text der Septuaginta erzählen eine andere Geschichte als die Luther-Übersetzung. Nämlich die von einer Geflüchteten, der sich Gott nicht nur gezeigt hat, sondern die ihm ins Angesicht gesehen hat, so wie später Mose Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen würde (2. Mose 33,11). Dadurch, dass Luther in 16,13a und 16,13b jeweils den Textzeugen folgt, nach denen Hagar von Gott gesehen wurde, aber ihn nur von hinten gesehen hat, kommt Hagars Bekenntnis, sie habe Gott gesehen, in der Jahreslosung und in allen Predigten, die nur den Luthertext zur Grundlage haben, nicht zur Sprache. Die Übersetzung in der Luther-Bibel ist kein Versehen, sondern wohl eine bewusste textkritische Entscheidung. Denn möglicherweise gibt die Septuaginta in 16,13a mit „Du bist ein mich sehender Gott“ tatsächlich einen älteren Text wieder, indem sie bei denselben Konsonanten nur einen Vokal minimal anders als die Masoreten liest (nämlich ein langes O: roʾi) statt eines kurzen O: roʾi). Und möglicherweise ist in 16,13b wiederum der hebräische Text tatsächlich älter. Und vor allem wird die Übersetzung der Luther-Bibel durch den Samaritanus gestützt, einem alten und damit gewichtigen hebräischen Text. Denkbar ist, dass die Septuaginta den Text in 16,13b aufgrund von 2. Mose 33,23 überarbeitet hat. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sie hier den älteren Text bietet, der deswegen geändert wurde, weil es nach Meinung eines Tradenten nicht sein könne, dass Hagar Gott von Angesicht ins Angesicht gesehen hat. Die exegetische Frage nach der wahrscheinlicheren Variante ist also nicht eindeutig zu entscheiden. Um so mehr fragt sich homiletisch: Welche Geschichte wollen wir erzählen und predigen, welche soll in den Auslegungen zur Jahreslosung vorkommen? Vielleicht sollten Auslegungen beide Leseweisen berücksichtigen. Ziehen wir sie zusammen, so lässt sich sagen: Der masoretische und der griechische Text der Septuaginta machen deutlich, dass die ägyptische Sklavin Hagar wirklich eine Gottesbegegnung erfahren hat, als sie bekennt, sie habe Gott gesehen und er habe sie gesehen. Auch meine Kollegin Christina Costanza will beide Leseweiseweisen gelten lassen und schlägt vor, diesen Text so zu lesen, dass es in ihm um „die Wirkungen des Gesehenwerdens Gottes durch Hagar“ geht: „Die erste Wirkung äußert sich dann vielleicht in den Varianten des Textes im Samaritanus und der Septuaginta. Wenn es dort ‚Du bist ein Gott, der mich sieht‘ heißt, so kann dies gelesen werden als Beschreibung dessen, was Hagar erlebt, als sie Gott sieht: Sie erfährt sich als von Gott Angeschaute, als von Gott Angesehene. Die Sklavin, unterdrückt, hart behandelt; die Frau, über deren Körper verfügt wird wie über einen Gegenstand – sie erfährt in der Gottesbegegnung ein Ansehen ihrer Person, das ihr Leben verändert.“ (Christina Costanza/Detlef Dieckmann: Du bist ein Gott, der sich zeigt – Du bist ein Gott, der mich sieht. Gen 16,13 – Jahreslosung 2023, in: Göttinger Predigtmeditationen 77,1 (2022), 73–81, 79) „Es ist trotz aller Knappheit der weiteren Erzählung in Gen 16 gut vorstellbar: Das Erlebnis, Gott zu schauen und dabei selber als Person gesehen zu werden (gewissermaßen eine Vorwegnahme dessen, was nach 1 Kor 13,12 allen verheißen ist), wird für Hagar lebensverändernd. Wie verwandelt bricht sie wieder von der Wasserquelle auf, verlässt die Wüste. Sie könnte eines der Motto-Lieder des Kirchentags 2015 singen.“ (A.a.O., 80) „Hagars umgekehrter Exodus könnte zu einem Perspektivwechsel rund um den Jahreswechsel führen, zu mehr Aufmerksamkeit für das Neue im Alten, für das Unerwartete im Unveränderten, für die Wasserquellen in der Wüste, für die Gottesbegegnungen auch. Für einen solche Perspektivwechsel eignen sich zum Beispiel Hagar-Fragen wie: Zu was kehre ich im neuen Jahr zurück? Zu was möchte ich zurück, und zu was muss ich zurück? Was kann oder soll dort Neues geschehen?“ (A.a.O., 81) Zur Jahreslosung fand am 15.11.2022 ein Online-Impuls aus dem Theologischen Studienseminar statt. Hier finden Sie die Folien dazu als pdf. Bild: Piyabay  

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